Die Reise meiner Großeltern und ihrer Kinder ins Ungewisse

Die Reise meiner Großeltern und ihrer Kinder ins Ungewisse

 

Die Nachkriegsereignisse in der Tschechoslowakei der Jahre 1945 und 1946 verschonten auch meine Großeltern und ihre Kinder nicht. Sie mußten im Jahr 1946 ihre Heimat verlassen, in eine ungewisse Zukunft.

 

In  Bezug auf die „wilden Vertreibungen“ des Jahres 1945, welche sehr zeitnah nach Kriegsende begannen, ist äußerst wenig Archivmaterial vorhanden. Dagegen wurden die „organisierten“ Vertreibungen ab dem Jahr 1946 recht gut dokumentiert. Eine große Hilfe bei meinen Recherchen war die „Aufstellung der Vertriebenentransporte des Jahres 1946“, welche von Herrn Wilhelm Jun aus Augsburg im Jahre 2016 erstellt wurde.

Für mich von besonderem Interesse ist die Vertreibung der deutschen Bevölkerung und damit meiner Familie aus der nordböhmischen Stadt Bilin. Hier begannen im Jahr 1946 insgesamt 8 Vertreibungstransporte, von denen 3 in die damalige sowjetische Besatzungszone führten. 5729 Personen mußten mit diesen Transporten Bilin verlassen.

Aus den Unterlagen von Herrn Jun erhielt ich den Hinweis, daß die Transportdokumente, welche die SBZ betreffen, im Landesarchiv Sachsen-Anhalt lagern und einzusehen sind. Von dort erhielt ich eine umfangreiche Sammlung an Dokumenten, welche den Transport vom 12. Juli 1946 von Bilin nach Bitterfeld betreffen. Anhand dieser Unterlagen möchte ich den Weg meiner Großeltern und ihren Kindern nachzeichnen.

Leider wurde über dieses Thema innerhalb der Familie nie gesprochen. Es existiert niemand mehr, den ich fragen könnte. Meine Großmutter Franziska Nalke deutete vor vielen Jahren einmal an, daß sie nie verstehen konnte wie aus Nachbarn Feinde werden können… Im Oktober 1944 wurde in der Ramphold-Gorenz-Gasse 24 (früher Volksgartengasse, heute Tyršová, das Haus existiert nicht mehr) der jüngste Sohn Horst geboren, welcher als Kleinkind verstarb. Dies ist der letzte mir bekannte Wohnsitz meiner Familie in Bilin.

Dem Abtransport vorausgegangen ist ein Aufenthalt im Vertreibungslager Briesen bei Bilin, belegt durch entsprechende Karteikarten.

Laut Transportbericht vom 13. Juli 1946 setzte sich der Transport Nr. 13276/571 mit dem Zug Nr. 4480, bestehend aus 43 Güterwaggons, am 12. Juli 1946 morgens um 3 Uhr ab Bilin in Bewegung. Vorausgegangen ist der Fußmarsch der 1206 Menschen vom Vertreibungslager („Sammelstelle“, ehemaliger Meierhof) zum Bahnhof. 40 Waggons waren für die Vertriebenen vorgesehen. Für jeden Waggon war ein Waggonältester bestimmt, denen der Transportälteste Ing. Viktor John vorgesetzt war. Transportführer waren 2 Personen mit tschechischen Namen, welche ich nicht entziffern kann. Weiterhin wurde der Transport begleitet von tschechischem Wachpersonal (1 Offizier und 10 Soldaten) sowie dem Arzt Dr. Rudolf Leonhardt, 2 Krankenschwestern und 2 Polizisten. Bereits beim Abgang verzeichnete das Transportprotokoll 8 erkrankte Personen. Meine Großeltern Josef und Franziska Nalke sowie ihre Kinder Gustav, Helga und Annemarie befanden sich in Waggon Nr. 13 mit Josef Minks als Waggonältestem.

Am 13. Juli 1946 abends um 19.20 Uhr traf der Zug auf dem Bahnhof Radiumbad Brambach ein. Aus dem Transportprotokoll geht hervor, daß die sich im Zug befindlichen Menschen am Abgangsbahnhof mit 0,5 l Suppe und 200 g Brot sowie 0,25 l Milch für Kinder bis 6 Jahren versorgt wurden. Hier waren nun bereits 11 Personen an verschiedenen Krankheiten erkrankt. In der Meldekarte ist vermerkt, daß kein Arzt, kein Isolationswagen, keine Kübel, keine Eimer und auch kein Chlorkalk vorhanden waren. Der sanitäre Zustand der Waggons war schlecht. In Bad Brambach verließ das tschechische Wachpersonal den Zug, es übernahm als deutscher Transportleiter Paul May aus Bad Brambach. Die Fahrt wurde um 20.45 Uhr fortgesetzt.

Die Fahrt führte nun über Plauen und Werdau nach Altenburg, wo der Zug am 14. Juli 1946 um 7.15 Uhr eintraf. Die Menschen im Zug wurden mit Brot, Gurken, Fett, Flockenbrei sowie Milch versorgt. Auch hier gibt der Transportbericht wieder Einblick darüber daß -wörtlich unter Punkt 21- „alles“ fehlte. Dazu zählten Medikamente, Säuglingsnahrung und Stroh. Das nächste Zwischenziel war nun Rehmsdorf bei Zeitz, wohin der Zug um 20.00 Uhr abfuhr und dort um 20.30 Uhr eintraf.

Hier wurden die Menschen durch eine Kontrollkommission, welche aus dem Organisationsleiter des Übergabepunktes Herrn Bathke, dem Arzt Herrn Ekkard sowie dem Vertreter der sowjetischen Militäradministration Kapitän Korschunow bestand, in Empfang genommen. An Lebensmitteln hatten die Angekommenen 500g Brot, 30g Zucker, 20g Butter sowie Milch in Dosen bei sich. Interessant liest sich, daß die „Umsiedler“ bis zum Empfangsort gut verpflegt wurden, der allgemeine Ernährungszustand gut sei, keine Klagen bestünden sowie jeder 500 Reichsmark und 75kg Gepäck bei sich habe. Noch am gleichen Tag erhielt der Zug die neue Zugnummer 1705 und fuhr weiter nach Bitterfeld. Nach Auskunft des Landesarchivs und einem Bericht über das Lager* befand sich das Aufnahmelager Bitterfeld auf dem Areal des Lagers „Marie“, welches 1937 als RAD-Lager errichtet wurde. Der Aufenthalt in diesem Lager zog sich etwa über 3 Wochen hin, Stichwort: Quarantäne. Hier erfolgte zweimal eine Entlausung, welche unmittelbar nach Ankunft und nochmals nach etwa weiteren 9 Tagen durchgeführt wurde. Hierüber wurde den betroffenen Menschen ein Gesundheitspaß ausgestellt. Nach der Entlassung aus diesem Lager wurde eine Übergangswohnung zur Verfügung gestellt.

Familie Nalke bezog ihre erste Wohnung in der neuen Heimat im Bitterfelder Hahnstückenweg 4 und wohnte später in der Leninstraße 16 in der Nähe des Bahnhofes. 1972 verstarb mein Großvater in Brehna, danach zog meine Großmutter in die Raguhner Straße und später noch gemeinsam mit Tochter Helga in die Feldstraße. 2003 verstarb sie im Wolfener Krankenhaus, ohne ihre Heimat je wiedergesehen zu haben. Auch mein Vater und seine beiden Schwestern leben mittlerweile nicht mehr. Der jüngste Nachkomme der Biliner Familie Nalke wurde 2022 in Schwerin geboren…

 

Quellen:

  • Transportlisten, Protokolle, Meldeschein, aufbewahrt im Landesarchiv Sachsen-Anhalt (K3 Nr. 6831/1, K3 Nr. 6896/2, K3 Nr. 6816/2
  • Karteikarten des Sammelzentrums Briesen, aufbewahrt im Kreisarchiv Teplitz
  • „Das Lager Marie auf Sandersdorfer Flur“ von Klaus Peter und Karsta Synnatzschke unter synnatzschke.net im Internet
  • Die Vertreibungs-Transporte des Jahres 1946. Eine zusammenfassende statistische Darstellung der Transporte aus der Tschechischen Republik, aus Österreich und aus Ungarn nach den Ländern der amerikanischen Besatzungszone (Bayern, BadenWürttemberg und Hessen) sowie der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) Kompaktausgabe 2016/2, von Wilhelm Jun, Augsburg

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2 Gedanken zu „Die Reise meiner Großeltern und ihrer Kinder ins Ungewisse

  1. matthias bulowski

    Wie aus Nachbarn Feinde wurden/werden? Es gibt einen wunderbaren Roman von Lutz Jahoda (ja, von dem). Er schreibt dazu von Brünn. Wer über 14 Jahre…dürfte die Menschen einigermaßen verstehen. Wer 60 ist, den haut nichts mehr um, was Menschen angeht.
    Kann alles so wieder passieren. Ich bin die 3. Generation nach dem 2. WK. Böse Zungen behaupten….
    Mein Vater kam mit Mutter und Schwester aus Bielitz. Großvater wurden dort im Lager von Partisanen die Nieren eingetreten. Die sowj. Soldaten waren korrekt. Gesprochen wurde kaum darüber. Komisch. Erst im Alter ärgert es mich: Warum habe ich nicht mehr nachgefragt?

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  2. Mario Nalke

    Danke für den Beitrag Herr Bulowski. Ich war schon immer geschichtsinteressiert und habe seinerzeit (so als 12-13 jähriger etwa) sowohl meinen Vater als auch meine Großmutter zu diesem Thema befragt, leider nur nichtssagende Antworten bekommen. In der DDR war dieses Thema eh tabu, da gab es auch offiziell keine Vertriebenen, bestenfalls Umsiedler – und Hetze gegen den „Bruderstaat“ CSSR ging ja schonmal gar nicht…

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